Auf der Suche nach Naparra: "Wo bist du nach 40 Jahren?"


Es ist vier Jahrzehnte her, seit José Miguel Etxeberria am 11. Juni 1980 im nördlichen Baskenland verschwunden ist. Seitdem hat die Familie eine Reihe von Anstrengungen unternommen, um die Angelegenheit zu klären, seinen Körper zu bergen und über Trauer ein tragisches Kapitel in ihrem Leben zu schließen. Dies war jedoch nicht möglich, immer noch ist nicht geklärt, wo „Naparra“ oder seine Überreste sind. Der Verlusst verbreitet unter den Hinterbliebenen immer noch Schmerzen.


Am 14. April 1958 wurde José Miguel Etxeberria Alvarez, „Naparra“ genannt, in Iruñea geboren. Sein Vater war aus Alegia und seine Mutter aus Iruñea, ​​er hatte drei Geschwister, die jünger und älter als er waren. Er studierte an der Josulagun-Schule in Pamplona und begann schon in jungen Jahren sich für die politische Situation in seiner Region zu interessieren. Er arbeitete in speziellen Gruppen von ETApm [politiko-militarreko], von dort wechselte er zu ETAm [militarrera]. Sein weitere ploitischer Weg sollte ihn zu Komando Autonomo Antikapitalistak [KAA - Antikapitalistisches autonomes Kommando].

LAIA und KAA

1974 entstand Langile Abertzale Iraultzaileen Alderdia [LAIA] als revolutionäre nationalistische Arbeiterpartei, eine Partei im südlichen Baskenland, geboren aus einer internen Spaltung von ETA. Gegründet wurde LAIA von Aktivist*innen, die Schwierigkeiten bei der Verfolgung einer echten Arbeiterpolitik sahen und ETA verließen. LAIA vertrat eine marxistisch- leninistische Linie. Das Ziel war ein komminstisches und unabhängiges Baskenland, wobei die Klassenfrage bei LAIA wesentlich mehr Bedeutung als die Frage der Nation wie bei ETA einnahm. LAIA war von Anfang an Mitglied der Koordinadora Abertzale Sozialista [KAS].

Es waren turbulente Zeiten in Euskal Herria: ETA hatte sich in ETAm und ETApm gespalten, der Francofaschismus neigt sich dem Ende entgegen und viele Unabhängigkeitsbefürworter sahen in dem kommenden Tod von Franco die Chance, einen eigenen Staat bilden zu können.
1976 gab es eine Spaltung innerhalb LAIA: Diejenigen, die die Eignung der KAS-Alternative unterstützten, gründeten LAIAbai [ja], die andere Gruppe nannate sich LAIAez [nein] und verließen KAS, verabschiedete sich vom Anarchismus und verschwand bald von der Oberfläche.
Einige LAIA-Mitglieder wurden Mitglied in Komando Autonomo Antikapitalistak [KAA], deren Gründungsdatum auf diese Zeit verifiziert wird, eine genaue Angabe existiert nicht. LAIA[bai] nahm am Alsasua-Tisch teil und war 1978 eine der Gründsmitglieder von Herri Batasuna. 1980 verließ LAIA die KAS und HB, da die Aktivist*innen eine Teilnahme an baskischen Institutionen befürwortete. Zu dieser Zeit stellten sich HB-Pollitiker*innen in Wahlen, nahmen aber das Mandat und die Sitze in den Institutionen nie an. LAIA wurde bald danach aufgelöst.
KAA wurde mit den gleichen theoretischen Zielen wie die beiden ETAs geschaffen: Unabhängigkeit und Sozialismus. Aber ihre Organisation, ihr Denken und ihre Praktiken waren unterschiedlich: Ohne militärische Hierarchien zu akzeptieren, waren sie autonome Kommandos mit einem gewissen Grad an Koordination zwischen ihnen, basierend auf einer Art Arbeiterversammlung. Der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten lag auf dem Antikapitalismus. Der Anarchismus und andere autonome Bewegungen in Europa hatten großen Einfluss auf sie.

Naparra als militanter Aktivist

Etxeberria begann während dieses revolutionären Übergangs seinen bewaffneten Widerstand. In dieser Atmosphäre, während er noch in Iruñea lebte, leistete er einen Beitrag zu einer ETAm-Veröffentlichung, indem er das Pseudonym Bakunin verwendete und darüber schrieb, was in der italienischen autonomen Bewegung in diesen Jahren geschah. Infolgedessen sprach ihn ein Bekannter, Kike Zurutuza, ein Mitglied von KAA, im April 1978 an,. Zurutuza, der zu dieser Zeit wie viele andere teilwesie Flüchtling im nördlichen Baskenland war, fragte Naparra, ob er sich nicht KAA anschließen wolle, da „du bei uns besser aufgehoben bist“. Im Dezember 1978 flohen sie vor den Staatssicherheitskräften in den Norden, nachdem mehrere Mitglieder von KAA in der autonomen Gemeinschaften in Nafarroa festgenommen hatten. In den Monaten vor seinem Verschwinden schrieb Naparra eigen verfasste Schriften für KAA.

KAA und ein Maulwurf

Als Naparra im Norden war, diskutieren die Autonomen heftigst darüber, ob sich unter ihnen ein Maulwurf befand: Julio Cabezas Centeno aus Renteria, auch bekannt als Mikel Escaleras. Er wurde aus einer Reihe von Gründen, einschließlich des selbstständigen Handlens beschuldigt, ein Maulwurf zu sein. Er gab auch keinen klaren Grund für die Zuflucht in Iparalde an. Aus diesem Grund setzten die Automomen einen Untersuchungsausschuss an. Escaleras akzeptierte die Anklage nicht. Naparra nahm angeblich auch an dem Treffen teil und argumentierte hart gegen Escaleras. Soweit bekannt, dachten die Autonomen auch daran, Escaleras zu töten, aber er teilte ihnen mit, dass er Behörden über das Treffen informiert habe und dass sie alle auffliegen würden, wenn ihm etwas passieren würde. Die Autonomen beendeten das Treffen. Einige Monate später, als die Vorwürfe gegen den Maulwurf bereits öffentlich bekannt war, wurde Escaleras in das Soria-Gefängnis gebracht, wo sich die Gefangenen der baskischen bewaffneten Organisationen versammelten, um herauszufinden, was vor sich ging. Die Gefangenen wurden deshalb mehr als einmal von den Sicherheitskräften übelst verprügelt. Die 1979 veröffentlichte Beschwerde gegen Escaleras wurde angeblich von Naparra verfasst.

In den frühen 90er Jahren erschienen neue Einzelheiten zu Escaleras. Eine Person, die an einem Prozess beteiligt war, sagte aus, dass Escaleras erwähnte, dass er zusammen mit dem Söldner Jean-Pierre Chérid im März 1984 an einem Angriff auf ein Gasthaus in Hendaye beteiligt gewesen war. All diese Informationen sind auch in dem 1997 veröffentlichten Buch „Intxaurrondo: la trama verde“ des Journalisten Pepe Rei nachzulesen. Ebenso Escaleras Beziehung zur GAL und den staatlichen Kloaken.

Teresa Rilo, Chérids Frau und Cousine von Escaleras, veröffentlichte 1991 weitere Informationen über Escaleras in ihrem Buch „Chérid, sikario bat estatuaren estoldetan“ [Chérid, ein Attentäter im staatlichen Kloakensystem]. Rilo erzählte, dass Escaleras sich nach Problemen mit den Autonomen an sie wandte von der Frau in Galizien Unterstützung erbat. Laut Rilo traf er dort seinen Cousin Chérid, der für die spanischen staatlichen Institutionen arbeitete. Chérid begann mit Escaleras für GAL zu arbeiten. Chérid starb 1984 in Biarritz, als eine Autobombe in seinem Auto explodierte. Seine Witwe sagt, die GAL habe ihn getötet, um den Söldner loszuwerden. Escaleras ist mittlerweile auch tot.

Aber was geschah mit Naparra?

Mutter und Vater in Ziburu
Angesichts all dieser Daten, einschließlich der „Karriere“ von Escaleras, wurde lange Zeit angenommen, dass Naparra von der Batallón Vasco Español [BVE] entführt und getötet wurde. Nachdem er am 11. Juni 1980 mit seinem Auto in Ciboure verschwand, erhielt seine Familie eine Anruf der fanzösischen Polizei, dass José Miguels Fahrzeug in Ziburu aufgetaucht war, jedoch keine Spur von seinem Aufenthaltsort vorhanden war. Sie gingen nach Ziburu auf der Suche nach Hinweisen, fanden aber nichts. Seine Eltern gingen nach Ziburu und blieben als stille Zeugen dieses Verschwindens am Steuer des Simca-Fahrzeugs, als letztes Objekt, das "Naparras" Hände dort berührt hatten.
Am am 22. Juni ging ein Anruf bei der Zeitung Deia von einem Menschen ein, der behauptete, für die BVE zu sprechen und der die Verantwortung für Naparras Entführung und Tod auf die Gruppe nahm. Am 4. Juli berichtete die BVE in einem weiteren Anruf bei derselben Zeitung, dass Naparra am 30. Juni getötet und an einem Ort namens Txantako bei Saint-Jean-de-Luz begraben wurde.

Die weitere Chronologie der Ereignisse

Im Jahr 1982 schließt Frankreich den Fall ab.
1999 reichte die Familie beim spanischen Nationalgericht eine Klage ein, bevor diese Möglichkeit einer  Klage verjährt war. Richter Ismael Moreno ließ diese zu.
Derselbe Richter schloss den Fall 2004 ab, er stellte auch das Verschwinden von Naparra in Frage.
Der Vater von Patxi Alvarez Naparra stirbt im Jahr 2006 nach 26 Jahren der Suche nach seinem Sohn.
Die Direktion der baskischen Regierung für die Aufnahme von Opfern des Terrorismus kontaktierte die Familie im Jahr 2008, die einem Bericht über die Opfer von paramilitärischen Gruppen vorbereitete, um Daten von José Miguel zu sammeln. Es war der erste institutionelle Kontakt seit 28 Jahren.

Mutter und Onkel

Im Jahr 2014 schickt seine Mutter ein Video an die UN-Kommission. Es spiegelt das Leiden von Celes Alvarez wider, aber auch ihre feste Entschlossenheit. Darin dankt sie den Vereinten Nationen dafür, dass sie auf den Appell des Kollektivs Egiari Zor hin "auf die Familie von Naparra gehört" haben, und sie hofft, dass "die Empfehlungen, die sie an die französische und spanische Regierung gerichtet haben, nicht auf taube Ohren stoßen". In einem Interview mit GARA im Jahr 2014 erklärte Alvarez, dass sie nie die Hoffnung verloren habe. Sie fügte hinzu: "Ein Kind im Gefängnis zu haben, oder sogar tot, ist sehr schwer, aber nicht zu wissen, wo es ist. Den Körper nicht zu haben... es scheint, als ob Jose Miguel nicht existiert hätte".
Die UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden nahm den Fall 2014 auf und erkannte Naparra als Opfer an. Eneko Etxeberria war in Genf, um den Fall zu erklären. Die Familie erhielt ihre erste institutionelle Anerkennung.
2015 präsentierte die Familie den Fall im Parlament von Navarra im Rahmen des Gesetzes über die Anerkennung und Wiedergutmachung von Opfern der Polizei und rechtsextremen Gruppen.
Im  Dezember 2015 erhielt der Anwalt der Familie, Iñigo Iruin, einen Anruf vom Journalisten Iñaki Errazkin und sagte, der ehemalige CESID-Agent Ramón Francisco Arnau de la Nuez habe ihn über den Ort informiert, an dem Naparra in Mont-de-Marsan begraben wurde.
Die Opfer der Polizei und rechtsextremer Gruppen wurden im Februar 2017 von der Regierung von Navarra, dem Parlament von Navarra und dem Gemeindeverband institutionell anerkannt. Naparras Verwandte waren auch dort.
Im April 2017 führte auf Ersuchen des spanischen Nationalgerichts die französische Gendarmerie fünf Stunden lang eine Suchoperation in Mont-de-Marsan an einem der beiden vom Gerichtsmediziner Paco Etxeberria angegebenen Orte durch. Nichts wurde erklärt.
Mai 2018; Nachdem Richter Moreno den Fall abgeschlossen hatte, gewann die Familie die Berufung und der Richter sandte den Antrag an die französischen Behörden erneut, nach 2017 eine weitere Suche an einem unerforschten Ort durchzuführen. Jetzt wartet die Familie darauf.
Im November 2018 stirbt die Mutter von Naparra, Celes Alvarez, nach 38 Jahren auf der Suche nach ihrem Sohn.
Die baskische Regierung fordert 2019 den UNESCO-Lehrstuhl für Menschenrechte und öffentliche Behörden an der Universität des Baskenlandes unter der Leitung von Jon Mirena Landa auf, über das Verschwinden von Naparra zu berichten.
Im Februar 2020 waren Eneko Etxeberria und Jon Mirena Landa am 12. und 14. des Monats im UN-Hauptquartier in Genf und berichteten über das Verfahren vor der Arbeitsgruppe für verschwundene Personen.
In der Zwischenzeit wird in Euskal Herria an einem Dokumentarfilm über Crowfunding gearbeitet, der diese 40-jährige Suche erzählt.

Frieden für die Hinterbliebenen?

Eneko Etxeberria
Die Familien derer, die verschwanden, bis die Leichen erschienen, ruhten sich nie aus. Noch nie. Patxi und Celes, Naparras Vater und Mutter, starben ohne diesen Frieden. Enekos Bruder, der Onkel von Naparra versucht weiterhin, die Spuren des Verschwindens aufzudecken: nach einer Lücke in der Justiz, über die Presse, neben dem T-Shirt des Bruders oder der jährliche Tribut auf dem Hof in Lizartza, mit Vorstößen beim das Parlament und über Opferforen. Wenn Naparras Fall 40 Jahre nach seinem Verschwinden überlebt, liegt dies hauptsächlich an den Bemühungen der Familie. Trauer, Wahrheit, Gerechtigkeit und Schmerz sind die Eckpfeiler dieser ständigen Suche. Er kann nicht aufgeben, er wie die Familie erinnert: "Das Vergessen von José Miguel würde ihn zum zweiten Mal verschwinden lassen."

Obwohl Naparra gestorben und ein Opfer aus politischen Gründen ist, kam diese Anerkennung von Genf nach Angaben der Vereinten Nationen seltsamerweise vor der von Vitoria-Gasteiz und Iruñea. Madrid hat inzwischen hart gearbeitet, um die Arbeit seiner Henker in den Abwasserkanälen zu vertuschen. Wenn kein Interesse an Nachforschung besteht, können leicht 40 bis 400 Jahre vergehen. Es gibt auch Fälle von Eduardo Bergaretxe Pertur, Jean-Louis Larre Popo und Tomás Hernández, die noch vermisst werden. Und ihre Familien warten auch immer noch.

Und im Wirbel der Erinnerung tanzen die ewigen Fragen: „Wo bist du? Wird er auftauchen?"
Eneko und die Familie leben in diesen Fragezeichen, blicken jetzt auf Mont-de-Marsan zurück und sind wie in den letzten vier Jahrzehnten zur Hoffnung verurteilt.